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EBSW – Wort auf den Weg 2/2025

Er weckt mich alle Morgen

Jeden Abend stelle ich mir den Wecker. Und jeden Morgen wache ich schon vor dem Klingelton des Weckers auf. Ich will nicht, dass mich ein schriller Alarm aus dem Schlaf reißt. Ich will selbst aufwachen. Genau genommen, wecke ich mich aber nicht selbst. Es ist wie eine innere Uhr, die mich weckt, ein Gefühl, es sei jetzt an der Zeit aufzuwachen. Wenn es sehr wichtig ist, dass mich meine innere Uhr auch tatsächlich rechtzeitig weckt, wache ich meist zu früh auf, mache Licht, schaue auf die Uhr und stelle dann fest: „Oh, ich habe ja noch zwei Stunden!“

Jochen Klepper war ein frommer Mann, und dies nicht, weil auch er wie ich der Sohn eines Pfarrers war, sondern obwohl er das war. Er lebte viele Jahre im Streit mit seinem Vater. Ursprünglich wollte er Pfarrer werden. Aber dann brach er sein Theologiestudium ab und wurde Schriftsteller. Er schrieb Essays für den Rundfunk. Und er schrieb Romane. Zuerst einen kleinen: „Der Kahn der fröhlichen Leute“. Dann einen großen, der zu einem Bestseller wurde: „Der Vater“, die Geschichte des „Soldatenkönigs“ Friedrich Wilhelm I., des Vaters von Friedrich dem Großen.

Er schrieb auch Gedichte, die fast alle als Lieder vertont wurden. Viele davon haben ins Evangelische Gesangbuch Eingang gefunden, wie zum Beispiel sein Lied „Er weckt mich alle Morgen“.

Schließlich schrieb er auch – nur für sich - Tagebuch. Oft, aber nicht immer, begann er den Eintrag in seinem Tagebuch mit der „Losung“, d.h. mit einem Bibelvers, der bis heute in einem speziellen Losverfahren von der Herrnhuter Brüdergemeine ausgelost wird. Vermutlich begann er mit dem Nachdenken über die „Losung“ auch den Tag.

Die erste Strophe seines Morgenliedes lautet:

Er weckt mich alle Morgen,
er weckt mir selbst das Ohr.
Gott hält sich nicht verborgen,
führt mir den Tag empor,
dass ich mit seinem Worte
begrüß das neue Licht.
Schon an der Dämmrung Pforte
ist er mir nah und spricht.

Eines ist klar: Wenn wir im Gottesdienst, der am Sonntagvormittag um 10 oder um 11 Uhr begann, dieses Lied singen, sind wir zu spät dran. Die Dämmrung ist da schon längst vorbei. Es mag zwar sein, dass wir im Winter zu einer Zeit aufstehen müssen, wenn es draußen noch dunkel ist. Aber den Übergang von der Dunkelheit zum Licht erleben wir dennoch selten. Wir machen ja unverzüglich selbst Licht an und sind nicht mehr darauf angewiesen, dass das Licht kommt. Und so erleben wir im Alltag auch nicht mehr so intensiv, dass jeder neue Tag ein göttliches Geschenk ist, das auf uns zukommt.

Wie ist es für diejenigen unter uns, die völlig blind, also ohne jeden Sehrest sind? Können sie dennoch den Anbruch eines neuen Tages spüren? Vielleicht durch Geräusche draußen auf der Straße? Oder durch die frische Morgenluft, die durch ein offenes Fenster hereinweht?

Wenn ich früher als nötig aufwache, genieße ich es, im Bett liegen zu bleiben. Ich mache nicht Licht, ich lese kein Buch, auch keine Herrnhuter Losung, ich döse nur vor mich hin. Doch dann kann es sein, dass mir ein Gedanke kommt, mit dem ich nicht gerechnet habe. Manchmal ist es ein Einfall, eine Idee, ein Stichwort, manchmal auch die Erinnerung an eine Pflicht. Es spricht mich an, und ich muss, ob ich will oder nicht, darüber nachdenken.

Ist dies gemeint, wenn es beim Propheten Jesaja heißt: „Alle Morgen weckt er mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören“ (Jes 50,4)?

Mag sein, es handelt sich auch einmal um die Erinnerung an ein Bibelwort. Aber dass ein Wort in der Bibel steht, ist noch lange keine Garantie dafür, dass es mich anspricht. Wichtiger ist vermutlich, dass sich dieses Wort, dieser Gedanke oder diese Einsicht mir aufdrängt. Es drängt mich, was ich gehört habe, später, wenn ich aufgestanden bin, niederzuschreiben. Hat da Gott gesprochen? Hat er mich geweckt? Wenn ja, dann nicht nur in dem Sinn, dass ich aufgewacht bin, sondern dass ich durch das, was ich gehört habe, wacher geworden bin im Blick auf das, was ich tun kann und was ich tun soll.

Pfarrer i.R. Dr. Eberhard Grötzinger

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